«The Deep» von Alma Katsu

Mein fundamentales Problem mit «The Deep» ist das Marketing des Buches. Denn weder hat man es hier mit einem Horrorroman noch einer gruseligen Spukgeschichte zu tun. Vielmehr handelt es sich hier um ein historisches Drama mit einer Handvoll moderat schaurigen Momenten. Über weite Strecken erlebt man die Geschichte der leidgeprüften Annie Hebbley, die auf der Titanic als Dienerin für Passagiere der ersten Klasse anheuert und nach dem bekannten Unglück vier Jahre später auf dem Schwesterschiff Britannic als Krankenschwester Kriegsversehrte betreut.

Auf der Titanic ergötzen sich einige der schwerreichen Passagiere an okkulten Séancen – was damals tatsächlich «en vogue» war. Dabei geht allerdings etwas schief und kurz darauf stirbt ein Junge. Fortan scheint es auf dem Luxusdampfer nicht mit rechten Dingen zu und herzugehen und vor allem Annie scheint empfänglich für die Stimmen aus dem Jenseits zu sein.

Das zumindest will uns eine frühe Szene im Buch weismachen. Bis es zum nächsten gruseligen Ereignis kommt, vergehen gut und gerne hundert Seiten. Dazwischen begegnet Annie auf der Britannic einen anderen überlebenden Passagier der Titanic – der sich aus unerklärlichen Gründen vor ihr fürchtet. GeschichtskennerInnen wissen natürlich, dass auch die Britannic ein Unglücksschiff war. Der zu einem Lazarettschiff umgebaute Luxusliner sank 1916, als er auf eine Seemine traf.

Katsu springt kapitelweise zwischen den beiden Zeitebenen 1912 (Titanic) und 1916 (Britannic) hin und her und nutzt innerhalb dieser Erzählstränge noch weitere Erzählperspektiven, in dem sie die Leserschaft in die Köpfe einzelner Charaktere versetzt. Da wären beispielsweise zwei junge Boxer, die sich in die erste Klasse schmuggeln, um ein paar krumme Dinger zu drehen, eine labile Mutter, die sich mit ihrem Ehemann verkracht und gar reale Gäste des Luxusliners wie Lady Duff Gordon oder Madeleine Astor.

Wenn das Buch schon nicht als Schauerroman funktioniert, sollte wenigstens der Drama-Aspekt in die Lektüre ziehen, oder? Schliesslich sind mit den Klassenunterschieden, die Welt der Reichen und Schönen und der sich anbahnenden Katastrophe genug Material vorhanden. Leider nein.

Denn die häufigen Perspektivenwechsel machen es schwer, eine Bindung zu den einzelnen Charakteren aufzubauen. Das scheint auch nicht das Ziel der Autorin gewesen zu sein, denn einige Handlungsstränge verlaufen sich im Nichts und nach dem Ende der Lektüre fragt man sich, warum man sich durch seitenweises mässig spannendes Drama gelesen hat, das im Rückblick ersatzlos hätte gestrichen werden können.

Generell ist das Buch mit seinen rund 560 Seiten mindestens 100, wenn nicht gar 200 Seiten zu lang geraten. Die ganzen Nebenplots und seitenlangen Dialoge fördern weder die Atmosphäre, noch bringen sie die Geschichte voran. Im Gegenteil, sie fühlen sich wie unnötiger Ballast an, der die Geschichte um Annie Hebbley stark verwässert.

Die Idee, eine fiktive Geschichte um die beiden legendären Unglücksschiffe zu spinnen, ist reizvoll. Tatsächlich baut die Autorin mit der Nebenfigur Violet Jessop eine reale Stewardess ein, die sowohl den Untergang der Titanic, als auch der Britannic überlebt hat. Katsu «degradiert» diesen Charakter in ihrem Buch allerdings zu einer Statistin. Stattdessen rückt sie mit Annie Hebbley eine blasse, weinerliche und ziemlich unsympathische Figur ins Zentrum, deren Geschichte und Geheimnis kaum mit den beiden Schiffen in Verbindung steht.

Genau betrachtet sind sowohl die Titanic als auch die in geringerem Masse vorkommende Britannic kaum mehr als eine wackelige Kulisse für eine Spukgeschichte, die sich erst viel zu spät als solche entpuppt. Die Hauptgeschichte, die Alma Katsu in «The Deep» erzählt, könnte problemlos auf einem anderen Schiff, in einer Grossstadt oder einem Dorf in Südamerika spielen. Schade um die aufwändige Recherche, welche die Autorin offensichtlich über die beiden Schiffe und die Gepflogenheiten der damaligen Zeit betrieben hat.

Fazit: Trotz spannender Prämisse und einem Setting, das enorm viel Potenzial mit sich bringt, verzettelt sich Alma Katsu mit «The Deep» in zu vielen Nebensträngen und versäumt es dabei, dem ausufernden Figurenpersonal genug Tiefe auf die Leiber zu schreiben, um mit ihnen mitfiebern zu können. Genretechnisch irgendwo zwischen historischem Drama und Schauergeschichte irrlichternd, überzeugt «The Deep» weder als das eine, noch das andere.

Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt.

Das Buch ist als Taschenbuch und E-Book u.A. über den Festa-Verlag erhältlich.